Zeljko Rusic: Ohne Titel, Fotos: Sylvia Waiblinger

Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar
von Beate Schröder

»Touch me« heißt eine Skulpturen-Ausstellung, die ich mit einer Gruppe blinder und sehbehinderter Menschen in Rottenburg besucht habe. »Bitte berühren!« statt »Nicht anfassen!« - das ist das Konzept der Ausstellung. Auch Sehende werden aufgefordert, die Skulpturen zu ertasten. Wer möchte, kann sich eine Augenbinde geben lassen.

Paarweise nähern wir uns den einzelnen Kunstwerken, jeweils eine Person blind oder sehbehindert, die andere sehend. Ich bin sehend, der Partner, der mich begleitet, von Geburt an blind. Ich führe ihn an die oben abgebildete Skulptur. Sie ist sicher zwei Meter hoch. Konzentriert und sorgfältig beginnt er die Skulptur abzutasten. Nach einer Weile tauschen wir aus, was wir wahrgenommen haben. Ich frage, was wohl die Knubbel zwischen den Quadern bedeuten könnten. Mein Partner betastet sie und sagt: »Hier ist eine Nase. Da muss ein Gesicht sein. Und hier eine Hand.« Ich sehe genauer hin. Erst jetzt sehe ich die gebeugten Figuren zwischen den Quadern, das Gesicht, die Nase, die Augen, die einzelnen Finger der überdimensionalen Hand. Durch die Größe des Kunstwerkes hatte ich auf die Details gar nicht geachtet. Ich fürchte, ohne meinen blinden Partner wäre mir das Wesentliche an dieser Skulptur entgangen.

Anfang dieses Monats feiern wir das Pfingstfest. Die Jünger werden erfüllt mit dem heiligen Geist. Er bläst die Traurigkeit hinweg, die über sie gekommen war, nachdem Jesus sie an Himmelfahrt verlassen hatte. Sie spüren: Es kommt nicht darauf an, was sie mit den Augen sehen, sondern was sie in ihren Herzen wahrnehmen.

Vielleicht ist es auch für uns gut, manchmal die Augen zu schließen, um die Kraft des heiligen Geistes zu spüren und das Herz zu öffnen für das, was Gott uns sagen will. Denn das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

 
 
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Pfarrerin Beate Schröder (evang.)