Herzhaut
von Georg Gawaz
„Wir werden eingetaucht und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen, wir werden durchnässt bis auf die Herzhaut.“
Mit diesen Zeilen beginnt Hilde Domin ihr Gedicht „Bitte“. Und wenn sie in diesem Gedicht von „wir“ spricht, dann deutet sie eigene Erfahrungen an und weiß gleichzeitig um die Leiderfahrungen so vieler anderer. Es ist das „Wir“ all derjenigen, die nicht von Leid verschont bleiben – es ist unser menschliches „Wir“.
Wie vielen Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen begegne ich in unseren Kliniken, die das gerade erleben: dass sie hineingeworfen werden in eine Diagnose, die sintflutartig über sie zusammenschlägt. In der alle Schutzschichten der Seele nicht mehr standhalten gegen Angst, Sorgen, Tränen, die die „Herzhaut“ zutiefst „durchnässen“. Die den Wogen von Schmerzen und zermürbenden Behandlungen ausgesetzt sind.
Ja, es gibt kein Leben „diesseits der Tränengrenze“, wie Hilde Domin es ausdrückt; kein Leben bleibt verschont vom Schmerz, vom Leid; kein Leben verweilt im „Blütenfrühling“.
So klar diese Feststellung ist – sie klingt in ihrem Gedicht überhaupt nicht resignierend. Denn auf neue Bilder lenkt die Dichterin unseren Blick, auf Hoffnungsbilder. Sie spricht vom „Sonnenaufgang“ – der Verheißung eines neuen Tages, eines neuen Anfangs. Sie hofft auf ein „Ende der Flut“. Darauf, dass es weitergeht.
Wie häufig darf ich Zeuge gelebter Hoffnung sein mitten im Leid und Schmerz: die Zeichnung der Enkelin, der Besuch des Freundes, das einfühlsame Gespräch des Pflegers oder der Ärztin, die gemeinsamen Tränen mit der Bettnachbarin, die Umarmung der Angehörigen, die Lebensdankbarkeit inmitten einer palliativen Entscheidung.
Das hilft, jeden Tag neu aus der Flut aufzutauchen „immer versehrter und immer heiler“ wie Hilde Domin es formuliert.
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Pastoralreferent
Georg Gawaz (kath.)