Foto: Beatrix Schubert

Mind the gap! 
von Beatrix Schubert

Ich war kürzlich auf der Alb unterwegs. Da fiel mir dieser Rest eines Baumes ins Auge: mitten an einem sonst nur mit niedrigem Gebüsch bewachsenen Hang, dieser mächtige Stumpf, stummer Zeuge eines noch mächtigeren alten Baumes, den es nicht mehr gibt.

Und: ein besonderer Baumstumpf. Von einem Künstler, den ich nicht kenne, bearbeitet – und von einem Künstler, den ich ahne.

Die Herzform, die aus dem natürlichen Stumpf geschnitten wurde, kommt von dem mir unbekannten Künstler auf der Alb, da bin ich sicher. Der Spalt, der dieses Herz von oben bis unten durchzieht – da bin ich nicht so sicher: Gehört er zu dem alten Baum, war womöglich der Grund für sein Ende? Ein Blitzschlag? Oder doch der Gestaltungswille des Künstlers? Ganz sicher bin ich, dass das dritte, was mich fasziniert, von einem anderen Künstler stammt: das zarte Grün, das aus der Spalte wächst.

 Mir ist dieser Baum zum Gleichnis geworden. Zum Gleichnis für mein, für unser Leben, das wächst und gedeiht, oft lange währt und uns knorrig und – wenn es gut geht – alt werden lässt. Immer ist es gefährdet. Es erfährt Einschnitte, Verletzungen und Verwachsungen, Wind und Wetter setzen ihm zu - und so bekommt es über die Jahre seine unverwechselbare Form. Irgendwann ist so weit: Es geht zu Ende, sei es plötzlich und unerwartet, sei es in einem langsamen, stetigen Prozess. Und dann? Dann wächst aus der Verletzung, aus dem Spalt, der sich von oben bis unten durchzieht, der Anfang neuen Lebens. Genau hier, an der Stelle, wo es am meisten schmerzt, sprießt es, frisch und grün. Der Künstler, dem wir dieses Wunder verdanken, ist ein unbekannter, den ich ahne. Viele nennen ihn Natur, ich nenne ihn Gott.

 

 

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Pastoralreferentin
Beatrix Schubert (kath.)