Foto: Thomas Dreher

Perspektiven
von Thomas Dreher

Eine laue Sommernacht in Tübingen, die Stadt sieht verwandelt aus, der Himmel strahlt noch hellblau das letzte Tageslicht aus. Diese blaue Stunde hat etwas Zauberhaftes, bevor die Nacht einbricht. Diese Stunde verwandelt unserer Perspektive auf das Gewohnte und Vertraute. Es muss nicht gleich ein „Sommernachtsraum“ sein, der die Sinne verwirrt. Aber drunten am Neckar das Gleiten der Stocherkähne, Menschen feiern am Neckarstrom, und dann und wann gehen auch Einsame durch die Straßen und Menschen alleine nach Hause, während sich das Dunkel um die Stadt breitet.

Wir vertreiben das Zwielichtige heute mit elektrischem Licht, denn das Zwielicht hat auch Beängstigendes. Das Vertraute wirkt anders, verunsichert meine Sicherheiten und Gewissheiten. Stimmt die Perspektive noch?

Das hat die Dämmerung mit der Einsicht in eine Erkrankung gemeinsam. Da dämmert mir etwas und führt mich in die dunkle Nacht der Seele. Das Vertraute erscheint in anderem Licht, das Gewisse trägt nicht mehr, die Zukunft ist unplanbar geworden, und vielleicht befrage ich die Vergangenheit oder will sie ändern. Diese Dämmerung hat nicht das Zauberhafte der Sommernacht, denn sie verunsichert weit mehr - sie ist ein Alltagsgeschäft, sie stellt die Fundamente des eigenen Lebens in Frage.

Insofern geht der Blick zurück in die eigene Lebensgeschichte, die Gassen der Kindheit, die Straßen des Lebens - und in all dem, was war: die Frage, was trägt. In unserem Bild leuchtet der Kirchturm der Stiftskirche durch die Dämmerung. Wie ein Leuchtturm, ein Signal, dass da etwas ist, was weiter hinausführt, steht er da. Da ist etwas über den dunklen Dächern der Stadt, das hinausweist auf die Weite und die Hoffnung des Himmels: „Gott behütet dich; ist der Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tags die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. Der Ewige behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.“

Mit diesem Vertrauen wandelt sich das Bild, weil in das Dunkel tatsächlich das Vertrauen hinein leuchtet, dass ein Weg da sein wird, dass es Hoffnung gibt und Halt. Die Menschen, die da sind, mit halten und mit denken. Und dann die Erfahrung: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.“ (Zitate: Psalm 121,5f und 139,11f).

Wir sind erkannt und gehalten. Es kann auch nach der Dämmerung einer Krankheit wieder Tag werden und das eigene Leben in neuem Licht erscheinen.

 

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Pfarrer
Thomas Dreher (evang.)